Struktur durch Bewegung

Wirkungen ungewöhnlicher und individueller Jugendhilfe: Struktur durch Bewegung
Wenn sich auch die Nebel dieser an sich eher randständigen Politischen Debatte von Zeit zu Zeit immer mal wieder verdichten, mal wieder lichten: Was bleibt sind einige gesetzliche Rahmenbedingungen, die Jugendhilfe im Ausland oder auf Reise oder einfach nur mehr als 100 km weit weg von der Heimat auf das festschreiben, was sie eigentlich vorher auch schon immer war – nämlich eine Ausnahmeerscheinung im Rahmen stationärer Jugendhilfe, gemacht und konzipiert ausschließlich für Jugendliche, denen nur noch sehr individuell und weit weg von zu Hause geholfen werden kann und sei es nur für einen begrenzten Zeitrahmen. Eine angemessene Hilfe für die, die sprachliche Barrieren brauchen, weil es so schwieriger ist, an Drogen heran zu kommen, die terrestrische Neuorientierung brauchen, weil das routinemäßige Weglaufen aus Einrichtungen und Situationen auf diese Art und Weise erschwert wird. Hilfe für die, die auf fremde Moralvorstellungen prallen müssen, weil es dann einfach schwieriger wird, zum Beispiel der Prostitution nachzugehen. Eine Hilfe, für die, die unter massiver Wohlstandsverwahrlosung leiden.

‚Erziehungsschwierigkeiten in der Gesellschaft’ ist eine sehr pauschale Beschreibung für das gnadenlose Versagen – man darf es kaum sagen in einem Land, in dem man fürs Angeln im Waldsee einen Schein braucht, fürs Kinderkriegen aber über keinerlei Qualifikation verfügen muss – von sehr konkreten Vätern und Müttern, die ihre Kinder quälen, vernachlässigen oder seelisch malträtieren.

Versagen ist ein pauschales Wort in einem Land, in dem die Überforderung allerorten grassiert. Filtern wir in einigen ausgewählten Spannungsfeldern mögliche Faktoren heraus, die die Wirksamkeit ungewöhnlicher Maßnahmen in der Jugendhilfe in ungewohnten kulturellen Zusammenhängen aufzeigen können.

‚Ausland‘ ist im übrigen ziemlich relativ, da es sich bei den meisten individualpädagogischen Projekten um Standorte des Europäischen Auslands handelt. Was also den Gymnasiasten ganz ohne Scheu und Argwohn zugestanden wird, nämlich die Berührung mit unserer europäischen Mitbevölkerung (ja, die Sache mit der EU) mittels Schüleraustauschen, Förderungsprogrammen, organisierten Jahres-Familienaufenthalten und dergleichen mehr, das gilt nicht für die geschmähten Underdogs der Gesellschaft: Die sollen gefälligst im Pott bleiben. Im bronxähnlichen Kiez. Da wurden sie ohnehin schon marginalisiert, also grenzt man sie doch gleich ein zweites Mal aus: Das Lernen von Toleranz, Sprache, Kultur und Lebensart von und mit EU-Mitbürgern tut hier – scheint’s – nicht not. Kultur, Völkerverständigung und Art de Vivre: bitte nur für die sich selbst reproduzierende Mittelschicht?

Kommen und Gehen
Wir betreuen in individualpädagogischen Projekten in der ‚Pampa‘. In abgelegenen ländlichen Räumen und eben auch manchmal – nur wenn es sein muss – im Ausland oder auf Reisen.
Kommen und Gehen ist ein Dauerthema für uns und unser soziales Umfeld. Für die Menschen, mit denen wir arbeiten, ist es normal, andere als Nachbarn, Kumpels, Kollegen oder gar Freunde zu betrachten, auch wenn diese nur ein paar Wochen anwesend sein sollten. In der Landwirtschaft, in der Küche, der Seemannschaft, im Tierschutz oder beim Musikmachen wird jeder Mensch immer gebraucht. Da stellt sich eher die Frage, ob jemand zufassen kann, als die Frage, wie lange er oder sie wohl bleiben wird. Wir arbeiten mit dem wirklichen Leben, es gibt immer etwas Sinnvolles zu tun. Es ist also normal, dass Menschen hinzukommen, ebenso wie sie manchmal, und manchmal auch unverhofft, wieder verschwinden.
Es ist von Anfang an klar, dass viele Jugendliche nur eine vorübergehende Präsenz bei uns haben. Das nimmt Druck aus allen Beziehungen, aber vor allem von den Jugendlichen weg.
Es gibt immer die Gewissheit, dass eine Betreuung auch in ein paar Monaten oder Jahren wieder enden kann und sich die Lebenswege wieder trennen werden. Das Kommen ist mit einem riesigen, weitgehend unbekannten Gepäck der jugendlichen Vergangenheit verbunden. Das Gehen ist auch ein wichtiger Einschnitt, der bereits dann als gut betrachtet werden muss, wenn kein weiterer Beziehungsabbruch stattfindet. Wunderbar ist es, wenn der Jugendliche mit leichterem Gepäck geht, als er gekommen ist.
In unserem Erziehungsalltag haben wir sehr individuelle und höchst unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Jasmin und Lena machten sich sofort auf den Weg, um neue Leute kennen zu lernen, zu treffen, zu schwatzen. Beide Mädchen führten höchst destruktive Beziehungen und agierten extrem auf der Oberfläche.
Sie nahmen wahllos jeden Kontakt wahr und boten sich in sexueller Hinsicht scheinbar ohne jedes Auswahlkriterium erwachsenen Männern an. Beider Verhalten änderte sich erst, als die frei flottierende Kontaktsuche technisch unterbrochen wurde. Beide Mädchen begannen – ohne die ständigen Außenreize – sich auch ein wenig mit sich selbst zu befassen.
Benny verbrachte zunächst sehr viel Zeit mit sich selbst, Benny baute sich ein Baumhaus. Er zog sich in sein Zimmer zurück. Beide hatten monatelang kein Bedürfnis, die Aussenwelt zu besuchen.
Ganz allgemein können wir vermuten, dass Reizarmut, ebenso wie eine geringe Bevölkerungsdichte für den Erfolg einer individuellen Betreuung vorteilhaft sind. Ein Neubeginn in der Fremde – was auch immer ‚Fremde‘ für den einzelnen bedeuten mag – scheint es Jugendlichen leichter zu machen, sich neu zu positionieren und zu präsentieren.
Die ebenfalls wirksame Sprachbarriere bei Auslandsaufenthalten, kann das Auftreten als neuer Mensch, welches vor dem verinnerlichen ‚Neuer Mensch‘ steht, erleichtern. Gerade weil man in einer fremden Sprache nichts oder nicht alles sagen kann, was einem so in den Brausekopf kommt, läuft man auch weniger Gefahr, wegen unbedachter Äußerungen oder der unvermeidlichen Identifizierung der Slang-Sprache stigmatisiert oder falsch verstanden zu werden. Die Chance besteht auch darin, die veränderte Umwelt als Rahmen für einen experimentellen Neuanfang zu begreifen. Die verständlicherweise empfundene Fremdheit wird so zur Möglichkeit, sich zumindest versuchsweise ungeliebter oder schlicht überlebter Teile seiner selbst zu entledigen.

Nähe und Ferne
So entrückt, wie sich das Leben in der Relation ‚Zeit und Raum‘ präsentiert, so konkret ist es in den Fragen von Nähe und Ferne. Besonders auch in der tiergestützten Pädagogik, die viele Lernfelder eröffnet, wird dies deutlich:
Fast jeder Jugendliche, der daran teilnimmt, findet schon bald sein Lieblingstier, dessen Entwicklung er mit Wohlwollen und gelegentlich großer Sorge begleitet. Es sind in vielen, aber nicht in allen Fällen Tiere, die den Jugendlichen zu wesentlichen Lern- und Lebenserfahrungen verhelfen, in dem sie über ‚Nähe und Ferne‘ ihre ganz eigenen wichtigen Botschaften vermitteln.
Die eher spielerische und leichte Möglichkeit, vielfältige Erfahrungen mit Nähe und Ferne, also Distanz, im Umgang mit den Tieren zu machen, statt stets an den komplizierten Beziehungen zu anderen Menschen zu arbeiten, ist für unsere Arbeit eine willkommene Hilfe, die die zwischenmenschlichen Kontakt- und Beziehungsangebote ergänzt.
Ähnlich und doch anders verhält es sich mit der Seemannschaft. Die Beziehungen zwischen den Menschen sind von vornherein klar strukturiert. Es gibt traditionell festgelegte Rollen und einem jeden wird eine Rolle zugewiesen. Das entkrampft das mitunter komplizierte Beziehungsgefüge zwischen Menschen, die nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Rolle und die Rolle ihres Gegenübers sonst erst finden müssen.
Von diesen Überlegungen bleibt, dass authentische Beziehungsangebote positiv wirksam sind – auch bzw. sogar gerade dann, wenn sie, wie im Umgang mit den Tieren oder der Seemannschaft, eher einen punktuellen Bezug oder temporären Charakter haben. Jede Chance, eigenes Verhalten gegenüber Dritten einzuüben, hilft, die eigene soziale Kompetenz ein klein wenig zu erweitern. Je unterschiedlicher die Angebote ausfallen, desto intensiver dürfte dabei die Wirkung sein.

Elemente und Kultur
Speziell auf Schiffen, also beim Segeln auf alten Traditionsschiffen, spüren die Jugendlichen die Elemente, denen sie ausgesetzt sind. Sie spüren sie genau so wie alle anderen und sind abhängig von ihnen, genau so wie alle anderen. Das ist eine neue, vielleicht seltsame Erfahrung: Die Elemente verbinden also Menschen, die sonst nicht verbunden wären.
Das neu – weil meist zum ersten Mal – erlebte Aufeinandertreffen von Kultur und Elementen mit dem Erkennen der eigenen Möglichkeit, hier gestaltend einzugreifen, bietet eine enorme und unglaublich positive Sprengkraft und vermag in der Folge den eigenen Antrieb zu steigern. In diesem spürbar geladenen Spannungsfeld zwischen Kultur und Elementen darf man jene Wirksamkeit vermuten, die andere zuweilen vereinfachend auf einen Gedanken von Kargheit und ‚ursprüngliche Lebensbedingungen‘ zurück führen möchten. Dabei ist es eben nicht die Ursprünglichkeit, sondern eher die kaum zu bestreitende Sinnhaftigkeit des Handelns zwischen den Elementen und der Kultur, die hier ihren wirksamen und orientierenden Beitrag leistet.
Spürbar wird eine sinnhafte Konstruktivität, die dem Einzelnen fast von alleine Handlungsfelder und Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet und ihm so erlaubt, einen eigenen, idealerweise zudem dauerhaften und sichtbaren Beitrag zum Zusammenleben mit den anderen zu leisten.

Ordnung im Freiraum
Im Unterschied zu den bislang angedachten Spannungsfeldern und den in ihnen aufzufindenden Wirksamkeitsfaktoren ist die ‚Ordnung im Freiraum‘ keine externe Größe, sondern ein integraler Bestandteil des Gesamtprojektes. Die Jugendlichen, die wir in der Vergangenheit aufgenommen haben, kamen aus Jugendschutzstellen, aus der Psychiatrie, von der Straße oder konnten im Zusammenleben mit den erziehungsschwachen Eltern eine unangemessene dominante Rolle einnehmen.
Wir sehen deshalb eine doppelte Notwendigkeit der Abgrenzung. Auf der einen Seite soll es zweifellos einen klar strukturierten Tagesablauf geben. Auf der anderen Seite wollen wir für die Jugendlichen und ihren Prozess des Einlebens bei uns einen möglichst großen Freiraum organisieren, der mit nur wenigen, dafür deutlichen Regeln auskommen soll und den wir weitest möglich familienähnlich gestalten wollen.
Eine der Klippen, die es hierbei immer wieder zu überwinden gilt, ist die notwendige Integration individueller Beschulung. Auch die Schule und Individualbeschulung fungieren als wirksames Frühwarnsystem, in dem sich die künftige Verweigerung oder temporäre mentale Abwesenheit weitaus früher ankündigen, als in der bloßen alltäglichen Beobachtung. Interessant ist hier das ständig neu auszutarierende Wechselspiel zwischen Beschulung, Mithilfe bei der realen Arbeit und selbstgestalteter Freizeit. Die Alltagsordnung ist schon da, wenn ein Jugendlicher zu uns kommt und es dauert manchmal wenige Tage, manchmal Monate, bis ein Jugendlicher die notwendigen Abläufe gefunden hat um eigenständig und rechtzeitig aufzustehen, das Frühstück pünktlich zu beenden, den Stundenplan einschließlich der Pausenzeiten einzuhalten, zu den Mahlzeiten zu erscheinen oder zur Mithilfe angemessen gekleidet zu sein.
Von großer Bedeutung sind auch die gemeinsamen Mahlzeiten, auf deren gemeinsame Zubereitung wir viel Wert legen. Wir kochen gemeinsam ‚ausländisch‘, backen unser eigenes Brot, schlemmen uns durch die Kulturen… und bringen den Jugendlichen bei, wie man mit Messer und Gabel isst und was die Besonderheit von Tischdecken und Kerzen ausmacht.

Groß und Klein
Es gibt eine Fülle von Möglichkeiten für Erziehung, die sich aus ungewöhnlichen kulturellen Zusammenhängen – sei es im Ausland, auf Reisen oder in der ‚Pampa‘ – ergeben. Diese ungewöhnlichen kulturellen Zusammenhänge ermöglichen nämlich in einem größeren Maß eine gesteuerte Eigenpositionierung rund um die Gretchenfrage des Heranwachsens: Was bin ich nun, groß oder klein?
Eine bedeutende Rolle spielt in diesem Zusammenhang die stets mögliche Einsicht in die Notwendigkeit von Aufgaben – unser Leben muss einen echten Sinn haben, damit wir wirkliches Glück und Zufriedenheit empfinden können.
In unserem oft in Kreisläufen organisierten Alltag gelingt es dadurch einige Male, Freude für die Mitwirkung an der arbeitsteiligen Gestaltung im Ergebnis erfolgreicher Vorgänge zu wecken. Nicht selten ist es so, dass zunächst das kleine Dabeisein über viele Zwischenschritte dem großen Mitgestalten weicht und so als Lern- und Reifungsprozess erlebbar wird.
Unter den Bedingungen von Jugendhilfe, insbesondere in einer 1:1-Betreuung und erst Recht unter ungewöhnlichen Umständen wie im Ausland, auf Reisen oder in ländlicher Alleinlage, ergibt sich die höchst seltene Möglichkeit einer recht weitgehend freien Positionierung. Sie gleicht einer frei gewählten Weichenstellung in einem stark reduzierten Sozialraum. Es lässt sich so spielerisch – gewissermaßen probeweise – im Sinne von nachholendem Lernen oder Nachreifen vieles ausprobieren, was vor der Zeit im Projekt nicht möglich war oder erschien. Besonders die fehlende Bühne erlaubet es, so manches zu tun oder bleiben zu lassen, was ansonsten undenkbar oder peinlich wäre – zum Beispiel Kind zu sein.
Es ist so die von Anfang an intendierte Individualität, die einen grundlegenden Beitrag zu den Erfolgsbedingungen von Betreuungen leistet. Die Freistellung von üblichen Zwängen jugendlicher Abgrenzung ermöglicht das individuell nachholende Lernen.